25.06.2020 Wochenimpuls
Die Augen schließen
© Prof. em. Hans Schneider (Geyersberg) - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26061202;
F.Krüger, Hersel; U.Trimpert,Kardorf
Maybe the most beautiful things in this life
are felt and never seen
Vielleicht werden die schönsten Dinge in diesem Leben gefühlt und niemals gesehen
(Tenille Townes,2020)
Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich vor bald vier Jahren meine Stelle als Gemeindereferentin im Seelsorgebereich Bornheim-Vorgebirge angetreten habe. An einem der ersten Tage zeigte mir Pfarrer Genster den Seelsorgebereich. An einer Wegkreuzung zwischen Sechtem und Waldorf sagte er zu mir: „Ein wunderbarer Ausblick, von hier aus kannst Du alle unsere Kirchtürme gut sehen, von Dersdorf bis Walberberg, auf und am Fuß der Ville oder in Sechtem in Richtung Rhein.“ Die Geschichte einer Landschaft, ihre Identität, ihr Herz hat mich schon immer fasziniert. Es ist wie das Eintauchen in die Biographie einer Landschaft. In meinem alten Beruf, der Archäologie, war dies einer der Grundlagen meiner Arbeit. Und das habe ich intuitiv beibehalten. Ob ich mit dem Fahrrad oder dem Auto unterwegs bin. So oft ich kann, versuche ich einen Moment inne zu halten und den Ausblick zu genießen. Und dabei beginne ich oft die Kirchtürme zu suchen, so, als ob ich mich vergewissern müsste, dass sie noch da sind. Kinder machen das gerne, wie ein Ritual, abzuzählen, um zu schauen, ob alles noch an seinem sicheren Platz ist, das Vertraute sie umgibt, wie in einer geborgenen Hand. Wenn ich Zeit für diesen Ausblick habe, spielt es keine Rolle, ob es nebelverhangen ist, die Sonne scheint, der Morgen anbricht, es im Strömen regnet oder Nacht wird – ganz im Gegenteil. Es erlaubt mir die Landschaft immer wieder anders zu erleben. Heute Abend, Mittsommer, am längsten Tag des Jahres, bin ich wieder mit dem Fahrrad unterwegs, diesmal Richtung Sechtem. Ich bin erst sehr spät losgefahren und die Sonne zeigt sich in einem wunderschönen changierenden Abendrot. Ich schaue auf das Vorgebirge, drehe mich einmal im Kreis. Mein Blick geht über den Kirchturm von Sechtem hinweg und ich kann bis in das Siebengebirge schauen. Über all dem liegt
ein zufriedener Abendzauber. Ich schließe die Augen, um diesen Moment in mir wirken zu lassen. Und ich bekomme kurz eine Ahnung des kreativen Werdens von Raum und Zeit, dem Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Umgebung: Der Mensch gestaltet Landschaft, und diese Kulturlandschaft prägt ihrerseits Mentalität und Identität ihrer Bewohner. Ich verstehe, dass Landschaft dann auch Spiegel meiner eigenen Seele, Lebensraum für Heimat und Identität, Oase der Geborgenheit oder auch zu einer Insel der Erholung werden kann. Ein leuchtender kurzer Moment! Ich möchte ihn einfangen, ihm am liebsten frei nach Goethe zurufen: „Geh nicht weg. Halt ein, Bleib stehn.“ Wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch der Geschichte liegt die Kulturlandschaft zwischen Rhein und Vorgebirge vor mir. Ich stelle mir vor, wie es war, als sich der Rhein von den Höhen der Ville durch die Landschaft bis an seinen heutigen Verlauf gegraben hat. Die alten Rheinuferkanten sind immer noch gut zu erkennen. Ich mache einen Zeitsprung in die römische und mittelalterliche Zeit und sehe den alten Rheinarm, wie er von Bornheim kommend in Richtung Wesseling fließt. Sein Verlauf ist noch heute gut bei aufziehendem Nebel zu erkennen. Ich stelle mir vor, wie Menschen vor fast 2000 Jahren auf der Römerstraße ihre Handelswaren auf Ochsenkarren über das Vorgebirge an die Rheinuferstraße Richtung Köln oder Mainz brachten, um diese von dort weiter zu verhandeln. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ausgesehen haben mag, kleine römische Gehöfte an den Hängen Waldorfs, Kardorfs, Mertens und Walberbergs, die Töpferöfen am Fuß der Ville von Waldorf bis Pingsdorf, deren qualitätvollen Töpferwaren im frühen und hohen Mittelalter hochgeschätzt waren. Wie ein Zeitraffer vergeht die Zeit in meinen Gedanken. Kleine Orte mit ihren wechselnden Herrschaften, in dessen Zentren zu allen Zeiten der Geschichte Kirchen als VerkünderInnen des Glaubens entstanden, Orte, in Mittelalter und Neuzeit vom Weinbau geprägt, der in der 2.Hälfte des 19. Jh. durch den Gemüseanbau abgelöst wurde. Der Wandel von Landschaft ist Faszinosum, es ist ein immerwährender Prozess, für die, die vorgefahren sind, unsere Vorfahren, aber auch für die, die uns nachfahren werden, wird es nicht anders sein. Aber was ist mit uns heute? In was für ein Wort könnte ich das fassen? Vor fahren, nach fahren, jetzt fahren oder jetzt bewegen? Was bewege ich jetzt? Ich fühle mich klein, ich schaue auf und sehe die Kirchtürme in der Ferne. Ihr vertrauter Anblick tut mir gerade jetzt gut. Sie sind so etwas wie ein
Dialogpartner. Aber heute spüre ich ihren herausfordernden Blick. Herausforderung zum Dialog? Ich bin versucht zu sagen, zum jetzt bewegen. Aber es will mir nicht so recht gelingen. Dann erinnere ich mich, wie ich vor wenigen Wochen auf der Ville in Rösberg an einer Wildblumenwiese gesessen habe und in die Rheinebene hinunterschaute. Ich konnte mich gar nicht satt genug sehen. Ich hatte eine großartige Sicht auf die Rheinebene bis zum Kölner Dom, der nun aber eher wie ein Miniaturspielzeug ausschaute, die Autos wie kleine Matchboxautos, die sich auf einem Spielbrett bewegen, während sich die Straßenbahn wie ein rotsilbernes Band durch die Landschaft schlängelte. Die Größenverhältnisse hatten sich komplett verschoben. Daran muss ich denken, während die Kirchtürme mich immer noch herausfordernd anblicken und sich sozusagen unsere Blicke treffen. Vielleicht geht es genau darum, dieser Treffpunkt oder Berührungspunkt unserer Blicke, als den Ort, wo der Himmel die Erde berührt, wir einander bewegen und zum Perspektivwechsel aufgefordert werden. „Jetzt bewegen“ heißt Perspektivwechsel wagen, und während ich das aufschreibe, fühle ich mich fast so wie am Ende einer langen erwartungsvollen Suche. Die Kirchtürme erinnern mich daran, dass Gott sich aus Liebe zu den Menschen klein macht. Er hat die Perspektive gewechselt, so hören wir im Philipperbrief (Phil 2,7). Kann diese Botschaft auch heute noch eine „jetzt bewegende“ Botschaft sein? Ja, davon bin ich überzeugt! „Jetzt bewegen“ heißt nach vorne bewegen. Perspektivwechsel im crescendo und decrescendo des Lebens zu wagen, weil er die Möglichkeit eröffnet, über die Tiefe und verschiedenen Ebenen menschlicher Beziehungen nachzudenken und zum Handlungsmaßstab werden kann. Gerade doch auch jetzt, steht die Kirche im Erzbistum Köln vor großen Herausforderungen, dem Pastoralem Zukunftsweg. Aber auch bei uns, zwischen Rhein und Vorgebirge, wird es darum gehen Leben und Glauben vor Ort mit den Menschen gemeinsam zu gestalten, dass sich Glaube entfalten kann vom Ich zum Du, zu einem menschenverbindenden, im besten Fall zu einem weltverbindenden Wir. Das verstehe ich unter „Jetzt bewegen.“
Ich habe vor wenigen Tagen einen wunderschönen Song der kanadischen Folksängerin Tenille Townes gehört, der mich sehr berührt hat. Darin singt sie die Zeilen:
„So why do we close our eyes
When we pray, cry, kiss, dream
Maybe the most beautiful things in this life
Are felt and never seen“
Und warum schließen wir die Augen,
wenn wir beten, weinen, küssen, träumen.
Vielleicht, weil die schönsten Dinge in diesem Leben
gefühlt und niemals gesehen werden.
Sie schreibt selbst: „Wir waren alle einmal ein kleines Kind, voller Staunen und sahen die Schönheit in allem. Wir hatten keine Angst, wir selbst zu sein, und waren unerbittlich bereit, die verrücktesten Träume zu träumen. Ich hoffe, dieses Lied hilft den Leuten, sich daran zu erinnern, wie sich das anfühlte. An der Liebe festzuhalten, die wir füreinander haben, und an den schönsten Dingen um uns herum, auch in schwierigen Zeiten hält dieses Gefühl am Leben. Es macht mich so dankbar, dass ich dieses Lied jetzt in der Zeit, in der wir uns befinden, herausbringen darf.“
Ich wünsche Ihnen den Mut die Perspektive zu wechseln, die Augen zu schließen, um das Urstaunen wieder spüren zu können und den Glauben, die Hoffnung, die Liebe (1 Kor 13,13), die uns verheißen sind, in uns wirken zu lassen.
Glaube, Hoffnung und Liebe, das, so wird mir jetzt klar, kann ich im Dialog dankbar zurückgeben und das macht mich glücklich, je mehr ich darüber nachdenke.
Seien Sie behütet in allem, was ist.
Ihre und Eure Ute Trimpert, Gemeindereferentin
Für die Pastoralteams der Seelsorgebereiche Alfter, Bornheim-Vorgebirge und Bornheim An Rhein und Vorgebirge
Gott macht sich klein-für uns